Interview mit Claude Meisch im Telecran

"Das Land sehen, wie es ist"

Interview: Telecran (Martina Folscheid)

Telecran: Herr Meisch, wie fühlen Sie sich kurz vor der Rentrée? Gespannt oder angespannt?

Claude Meisch: Es ist ja nicht meine erste Rentrée als Minister, insofern bin ich nicht sonderlich aufgeregt.

Telecran: Sie haben also Routine?

Claude Meisch: Ja, und ich vertraue darauf, dass auch diese Rentrée funktionieren wird.

Telecran: Eine Neuerung ab der Rentrée ist das Konzept der flächendeckenden kostenlosen Hausaufgabenbetreuung in den Maison relais...

Claude Meisch: Ja, genau. Bisher gab es Einrichtungen, die die Hausaufgabenbetreuung nicht angeboten haben, weil sie die Auffassung vertraten, dass dies nicht zu ihren Aufgaben gehört. Jetzt gibt es einen einheitlichen Rahmen. Wir wollen jedoch niemanden überfordern, was Personal und Räumlichkeiten angeht, wir geben uns also ein Übergangsjahr.

Wirklich neu ist, dass die Maison relais von nun an gratis sind. Eine klare Botschaft, dass die Strukturen nicht nur Serviceeinrichtungen zur Betreuung der Kinder sind, sondern sie sollen dort auch etwas lernen. Und natürlich wollen wir Familien finanziell entlasten, auch in einer Zeit, in der die Bevölkerung mit vielen Preiserhöhungen für Strom oder Gas zu kämpfen hat.

Telecran: Wird es denn angesichts von Wartelisten in manchen Maison relais genug Plätze für alle Schüler geben, die das Angebot der Hausaufgabenbetreuung in Anspruch nehmen wollen?

Claude Meisch: Wir haben das mit den Trägern der Maison relais besprochen. Und wir stellen selbstverständlich auch Mittel zur Verfügung, um die Strukturen auszubauen, und helfen dabei, Personal zu rekrutieren.

Telecran: Sie garantieren also, dass niemand auf die Hausaufgabenbetreuung verzichten muss?

Claude Meisch: Es sind alle Mittel da, damit die Gemeinden und andere Träger ihre Aktivitäten ausbauen können.

Telecran: Eine weitere Neuerung ist die Einführung des elektronischen Hausaufgabenbuches. Soll das "E-Bichelchen" im Bereich Schule so etwas sein wie das Dossier partagé im Bereich Gesundheit?

Claude Meisch: Ein wenig, ja. Erzieher in den Maison relais sollen keine Lehraufgaben übernehmen, aber dokumentieren können, ob die Hausaufgaben gemacht wurden, oder auch ein Feedback geben können, ob sie vielleicht zu schwer waren etc. Das Gleiche gilt für die Eltern, auch sie können ihre Anmerkungen in diesem Hausaufgabenbuch vornehmen.

Telecran: Das "E-Bichelchen" ist eine App. Was entgegnen Sie Eltern, die nicht möchten, dass ihre Kinder schon ab der Primärschule Handy oder iPad besitzen?

Claude Meisch: An der Kommunikation ist nicht unbedingt das Kind beteiligt. Es ist eine Kommunikation zwischen dem Lehrpersonal, den Maison relais und den Eltern. Das Kind erledigt ja seine Hausaufgaben nicht in dieser App. Sondern das "E-Bichelchen" ist eine digitale Kommunikationsplattform für die Erwachsenen. Natürlich kann man auch mal ein Dokument hineinsetzen zum Herunterladen. Aber es ist nicht so gedacht, dass das Kind Zugang zu einem Handy oder iPad haben muss.

Telecran: Vor der Pandemie war das Schuljahr in Trimester gegliedert, während Corona in Semester. Für das bevorstehende Schuljahr konnten das Lehrpersonal und teilweise sogar die Eltern in den Schulen abstimmen, welches Modell sie für ihre Schule wünschen. Warum regelt man so etwas in einem kleinen Land wie Luxemburg nicht einheitlich?

Claude Meisch: Es ist nicht neu, dass Schulen diesen Aspekt autonom entscheiden. Auch vor der Pandemie gab es bereits Schulen, die das Schuljahr in Semester gegliedert hatten. Für mich könnten Semester einen Vorteil bieten in der Hinsicht, wie man bestimmten Lernstoff prüft: in Form einer klassischen Prüfung oder vielleicht mit anderen Methoden. Man hätte sicher mehr Flexibilität mit dem Semester-Rhythmus. Aber das ist in meinen Augen nicht die wichtigste zu führende politische Diskussion.

Telecran: Aber es scheint ein großes Thema an vielen Schulen zu sein...

Claude Meisch: Es ist in vielen Familien ein riesiges Thema. Denn wenn das eine Kind eine Schule mit Trimestern und das andere eine mit Semestern besucht, sind die Ferienzeiten nicht komplett identisch. Dann fühlen sich Familien benachteiligt, wenn sie ausgerechnet in Wochen Urlaub buchen müssen, in denen es mehr kostet als in anderen Wochen. Aber ehrlich gesagt: Ich fühle mich nicht dafür verantwortlich, den Skiurlaub zu organisieren. Ich habe andere Zuständigkeiten.

Telecran: Nach wie vor gibt es Lehrermangel. Warum ist der Beruf des Lehrers so unattraktiv geworden?

Claude Meisch: Eine schwierige Frage, denn Lehrermangel gibt es nicht nur hierzulande. Auch andere Länder haben versucht, dem Problem mit Quereinsteigerprogrammen zu begegnen. Aber wir haben ja nicht nur zu wenig Lehrer, sondern auch zu wenig Personal im Gesundheits- und im Handwerkssektor, im Hotel- und Gaststättengewerbe, bei der Polizei... Ich meine, es hilft dem Land nicht, wenn nun einer dem anderen Personal wegnimmt, sodass der Mangel dann an anderer Stelle größer wird. Aber wir müssen uns natürlich Gedanken machen um den Stellenwert des Lehrers oder von anderen erzieherischen Berufen.

Telecran: Aber was ist der Grund für die Unattraktivität?

Claude Meisch: Es ist nicht nur eine Frage von Attraktivität, sondern auch von Respekt und Anerkennung der Aufgabe, die Lehrer ausüben. Wenn ich höre, wie manche über Lehrer und Erzieher reden, dann frage ich diese Leute immer, ob sie sich dessen bewusst sind, dass vor den Klassen ihrer Kinder später vielleicht keine Lehrer mehr stehen werden, wenn wir gesamtgesellschaftlich nicht ganz klar die Botschaft geben, dass es ein enorm wichtiger Beruf ist und jeden Tag eine enorm wichtige Aufgabe ist, im erzieherischen Bereich zu arbeiten.

Telecran: Hängt die Unattraktivität womöglich auch mit Konditionen für Lehrer zusammen, die sich durch Reformen stark verändert haben? Zum Beispiel die automatische Versetzung der Schüler in den unteren Klassen im Enseignement Secondaire Général? Sie scheint ein Klima zu fördern, in dem manche Schüler den Unterricht nicht mehr ernst genug nehmen, weil sie denken, dass sie so oder so versetzt werden?

Claude Meisch: So ist es ja nun auch nicht, dass die Noten nicht zählen würden. Sie sind maßgeblich dafür, welchen Weg man später einschlägt, ob man nun in Richtung Abitur geht oder einen Beruf ergreifen möchte. Natürlich haben die Schüler sich verändert, die Familien, die Gesellschaft. Ich bin vor einiger Zeit sehr erschrocken, als bei einer schulischen Versammlung jemand sagte "Wir kriegen Kinder geschickt, die wir nicht bestellt haben." Was ist das für eine Haltung? Die Schule muss doch den Veränderungen der Gesellschaft Rechnung tragen, nicht umgekehrt. Aber dass es Diskussionen gibt, wie das System in den unteren Klassen aussehen 5011... Wissen Sie, zuvor wurde zehn Jahre lang diskutiert, ob das System nicht genau in diese Richtung weiterentwickelt werden müsste.

Telecran: Die automatische Versetzung in den unteren Klassen ist also nach wie vor genau richtig?

Claude Meisch: Luxemburg hat immer noch ein großes Problem in seinem Bildungswesen, und das ist die Klassenwiederholung. Und das, obwohl man jetzt nicht mehr so schnell sitzenbleiben kann, wenn die Noten sich normal entwickeln, auch wenn der Fortschritt vielleicht in manchen Fächern eher gering ausgeprägt ist und einem später dadurch nicht alle Bildungswege offenstehen. Aber sämtliche Studien in Sachen Bildung beweisen, dass die Klassenwiederholung nicht besonders viel bringt, sie wird sogar sehr angezweifelt, und dass der Schüler, der ein Schuljahr wiederholt, hinterher nicht viel weiter ist wie der Schüler, der direkt in die nächste Klasse aufsteigt. Die Ressourcen, die wir für die Klassenwiederholung ausgeben, sollten wir besser in andere Maßnahmen wie beispielsweise die "Summerschool" (Nachhilfeangebot während Schulferien, Anm. d. Red.) investieren. Aber die Motivation der Schüler ist natürlich eine der Kernaufgaben des Lehrers. Das macht es ja so schwer, man ist nicht nur Lehrer, um ein Fach zu unterrichten, sondern auch, um für das Fach zu motivieren.

Telecran: Kritikern zufolge bleiben die Lernwilligen auf der Strecke, während sich bei den Lernunwilligen Defizite anhäufen. Manch einem Schüler wird in der 5e klar, dass er sich den Weg zur Wunschausbildung verbaut hat. Sie machen für diese Schieflage nicht die automatische Versetzung verantwortlich?

Claude Meisch: Das war ja ein Kritikpunkt vom ersten Tag an, als wir das am Ende der letzten Legislaturperiode eingeführt haben. Aber wir haben uns jetzt schon unzählige Male angeschaut, wie viele Klassenwiederholungen es gibt, wie die Orientierung in der Se verläuft. Und wir stellen keine großen Verschiebungen zu dem vorigen System fest.

Telecran: Das heißt, es gibt eine Evaluierung?

Claude Meisch: Es gibt interne Statistiken, keine externen Evaluierungen. Aber diese Statistiken zeigen uns klar, dass nicht jeder automatisch durchkommt. Es gibt immer noch Klassenwiederholungen, und es ist nicht so, als ob alle Schüler in der 5e sich erschrecken und nicht mehr weiterwissen würden.

Telecran: Für die Schüler, die sich während der Pandemie im fünften und sechsten Schuljahr befanden, waren diese zwei wichtigsten Jahre der Primärschule von einer Ausnahmesituation geprägt. Viele von ihnen haben von dieser Zeit enorme Wissenslücken. Trotzdem geht es in der 7e im Lycée weiter, als hätte es Corona nicht gegeben, sagen Eltern...

Claude Meisch: Den Vorwurf verstehe ich nicht. Die Schulen blieben während der Pandemie weitestgehend geöffnet. Der Distanzunterricht ging so gut wie möglich über die Bühne, auch weil wir in den Jahren zuvor so viel in die Digitalisierung investiert hatten. Wir haben zwei Mal hintereinander durch den Bericht des "Luxembourg Centre for Educational Testing" festgestellt, dass es keine signifikanten Rückstände von der Zeit der Pandemie gibt. In manchen Punkten sank das Niveau etwas, in anderen stieg es. Schreibkompetenz und Hörverständnis der deutschen Sprache beispielsweise gingen leicht zurück. Im Übrigen plädiere ich für einen sanften Übergang von der Primär- zur Sekundarschule. Die meisten Schulen haben verstanden, dass die Kinder aus verschiedenen Grundschulen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu ihnen kommen.

Telecran: Inzwischen gibt es über das Land verteilt sechs öffentliche Europaschulen. Diese Implementierung anderer Schulmodelle stößt nicht nur auf Gegenliebe. Es heißt bisweilen, es werde mehr für ausländische Kinder als für luxemburgische Kinder getan. Was entgegnen Sie solchen Vorwürfen?

Claude Meisch: Auch da muss man der Realität im Land ins Auge blicken. Dennoch wundert mich dieser Vorwurf, denn Studien beweisen, dass die Schüler, die benachteiligt sind in unserem Bildungssystem, Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder aus sozioökonomisch schwächeren Familienverhältnissen sind. Insofern meine ich, dass es normal ist, darauf zu reagieren und ein Bildungssystem weiterzuentwickeln, das dieser Tatsache besser Rechnung trägt.

Telecran: Und dabei helfen die europäischen Programme?

Claude Meisch: Sie verkörpern ein Modell, das konzipiert wurde, um innerhalb einer Schule, sogar innerhalb einer Klasse zum Teil, Kinder mit unterschiedlichen Muttersprachen beschulen zu können. Die Mehrsprachigkeit haben wir in Luxemburg ja nicht nur in der Schule, sondern in jeder Region unseres Landes, jeder Gemeinde, jedem Wohnviertel. Der Erfolg gemessen an den Einschreibungen gibt uns Recht, weil viele Eltern wissen, dass ihrer spezifischen Sprachensituation besser Rechnung getragen werden kann. In unserem traditionellen klassischen System wird man auf Deutsch alphabetisiert, dann kommt Französisch dazu, danach Englisch. Jetzt kann es ja aber sein, dass sogar luxemburgischsprachige Kinder mit Deutsch anfangen, aber Englisch als nächste Sprache wählen möchten.

Telecran: Und dies ist also mit den europäischen Programmen möglich. Sie wundern sich also sehr über die Kritik?

Claude Meisch: Nein, sie ist mir nicht neu, aber ich kann sie nicht akzeptieren. Es gibt derzeit in allen Branchen Personalmangel, also sollten wir uns doch darüber im Klaren sein, dass wir ein Schulsystem brauchen, dass offen für Kinder von ausländischen Arbeitskräften ist, das auf ihre Bedürfnisse antwortet. Ein Schulsystem, das vielleicht auch eine interessante Alternative für Kinder sein kann, die schon länger hier leben. Nur noch ein Drittel der eingeschulten Kinder spricht zuhause Luxemburgisch. In Anbetracht dieser Tatsache können wir die Bedürfnisse der restlichen zwei Drittel doch nicht ignorieren. Darum versuchen wir zum Beispiel auch, Elemente, die sich in den Europaschulen bewährt haben, in unsere traditionellen Schulen zu transferieren, zum Beispiel eine fakultative Alphabetisierung auf Französisch für Schüler, die aus einem frankophonen oder lusophonen Sprachraum kommen. Ich finde es schade, dass wir unser Land nicht sehen, wie es ist, und unsere Schule dementsprechend ausrichten.

Telecran: Gehen Sie davon aus, dass die Schulen im Herbst und Winter trotz Corona geöffnet bleiben werden?

Claude Meisch: Ja, denn wir sind inzwischen ganz anders aufgestellt als in den ersten beiden Jahren. Wir sind natürlich auf verschiedene Szenarien vorbereitet, sei es punktuelle Maskenpflicht oder...

Telecran: Sie schließen also eine Maskenpflicht bei steigenden Infektionszahlen nicht aus?

Claude Meisch: Nein. Das hängt von der Situation in den Krankenhäusern ab. Das Virus darf sich nicht in den Schulen ausbreiten und das Gesundheitssystem zum Wackeln bringen. Instrumente können eine punktuelle Maskenpflicht sein, vermehrte Tests... Aber ich denke, wir sind weit von der Vorstellung von Schulschließungen entfernt. Es sei denn, es kommt eine neue Variante, die alles verändert.

Telecran: Was wollen Sie bis zum Ende der Legislaturperiode noch unbedingt in Angriff nehmen beziehungsweise zu Ende bringen?

Claude Meisch: Das Gesetz der Anhebung der Schulpflicht von 16 auf 18 Jahre. Es ist auf dem Weg und ich hoffe, dass es noch gestimmt wird. Ich werde auch noch einen Gesetzesvorschlag einbringen über den Empfang von "Primo-Arrivants", also Schülern, die aus dem Ausland kommen. Ich möchte ihnen mit einem entsprechenden Service, den wir aufbauen, eine bessere Orientierung bieten. Oft ist es dem Zufall überlassen, wo sie aufgenommen werden, sprich: dort, wo noch ein Platz in einer Empfangsklasse frei ist. Wichtig ist mir zudem, die Hilfe für Schüler mit besonderen Bedürfnissen weiterzuentwickeln. Wir haben große Fortschritte in puncto Inklusion im Fondamental gemacht. Wir stellen aber fest, dass es hapert, wenn diese Schüler ins Lycée kommen. Wir müssen dort also vor allem das sonderpädagogisch geschulte Personal aufstocken.

Telecran: Würden Sie nach den nächsten Parlamentswahlen nochmal das Bildungsressort übernehmen?

Claude Meisch: Es ist zu früh, um mich dazu zu äußern. Ich will es nicht ausschließen, andererseits könnte man argumentieren: Was man in zwei Legislaturperioden nicht gemacht hat, macht man auch in einer dritten nicht. Andererseits benötigt man gerade im Bildungssektor Kontinuität. Resultate von Reformen sieht man oft erst nach einigen Jahren.

Telecran: Sie wären also schon bereit?

Claude Meisch: Also ich würde bestimmt nicht mit Erleichterung aus diesem Ministerium hinausgehen. Es würde mir schon schwerfallen. Weil ich viele Menschen schätzen gelernt habe, weil ich das Ressort intensiv kennengelernt habe, und weil ich weiß, dass nie alles getan ist. Es würde mir sicher leid tun, nichts mehr mit dem Gebiet zu tun zu haben, weil es für mich sehr erfüllend war bisher. Aber andererseits macht das ein Politiker ja nicht für sich, sondern um dem Land zu dienen, und man macht das immer nur auf Zeit.

Telecran: nd könnten Sie sich ein anderes Ressort vorstellen?

Claude Meisch: (lacht) Noch einmal: Die Bildung ist das Ressort, das ich beide Male haben wollte. Anfangs hat mir niemand geglaubt, mittlerweile glauben mir es mehr Leute. Für mich persönlich ist es immens bereichernd.

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