Interview von Claude Meisch im Luxemburger Wort

"Wie im Science-Fiction-Roman"

Interview: Luxemburger Wort (Michèle Gantenbein)

Luxemburger Wort: Claude Meisch, die Wissenschaftsakademie Leopoldina hat geraten, zuerst die Grundschulen und Betreuungseinrichtungen zu öffnen. Die Luxemburger Regierung hat beschlossen, mit der Öffnung der Sekundarschulen zu beginnen. Warum?

Claude Meisch: Es gab laut einem Zeit-Interview mit dem Bildungsexperten Manfred Prenzel seitens der Politik den Wunsch, möglichst schnell die Schulen und Betreuungsstrukturen zu öffnen, damit die Eltern wieder arbeiten gehen können. Die Leopoldina sollte hierzu konkrete Vorschläge machen. Das Robert-Koch-Institut hat sich auf sanitäre Argumente berufen und vorgeschlagen, zunächst die höheren Klassen zu öffnen, weil diese Schüler die Abstands- und Hygieneregeln besser einhalten können. Wir haben uns auch für diese Reihenfolge entschieden, wobei die Wiederaufnahme sukzessive stattfindet und nur die Hälfte, also maximal 50 000 Schüler zugleich zur Schule gehen.

Luxemburger Wort: Mit der Öffnung der Schulen steigt die Infektionsgefahr. Viele Eltern, aber auch Schüler und Lehrer haben Angst davor. Wäre es nicht einfacher und sicherer, die Schulen bis zum Sommer geschlossen zu lassen und die schulische Betreuung auf die Schüler zu beschränken, die dringend Hilfe brauchen?

Claude Meisch: Die Virusverbreitung ist ja nicht das einzige Risiko. Wir können nicht weiter in der Ausgangssperre verharren und die Kinder bis zum Sommer einsperren. Sie verkraften es nicht länger, ihre Freunde nicht zu sehen. Wir müssen akzeptieren, dass wir zu einer Verbreitung des Virus beitragen werden. Aber wir tun das schrittweise, mit einem engen Monitoring. Wir werden den Impakt jeder Etappe bewerten und nächste Schritte gegebenenfalls verschieben. Das Timing ist nicht in Stein gemeißelt. Ziel ist es, die Krankenhauskapazitäten nicht zu überschreiten. Wir steuern ja nicht auf einen normalen, sondern auf einen eingeschränkten und gesicherten Schulbetrieb hin, mit einer halbierten Schülerzahl und Maßnahmen zum Schutz der Schüler und Lehrer.

Luxemburger Wort: Viele Eltern haben sich mit dem Heimunterricht gut eingerichtet und wollen das bis zum Schluss des Schuljahres so weiterführen. Dürfen sie das?

Claude Meisch: Jeder kann einen Antrag auf Homeschooling stellen. Allerdings ist dann nicht der Lehrer für den Unterricht zuständig, sondern die Eltern. Das geht natürlich. Klar ist: Alle Schüler unterliegen der Schulpflicht und müssen zum Unterricht erscheinen, außer Schüler und Lehrer, die der Risikogruppe angehören. Da müssen wir andere Lösungen finden. Es sind ja noch ein paar Wochen, bis es wieder losgeht.

Luxemburger Wort: Dennoch haben viele Eltern Angst, dass ihre Kinder sich und ihre Familie anstecken und womöglich Familienmitglieder sterben, die sich bisher streng an die Abstandsregeln gehalten haben. Sie argumentieren, dass die Gesundheit Vorrang vor der Schulpflicht hat...

Claude Meisch: Die Frage, wie wir den Schutz gefährdeter Personen zweiten Grades handhaben, ist noch nicht geklärt. Ich warte diesbezüglich noch auf eine Antwort der Gesundheitsministerin. Diese Frage stellt sich im Übrigen auch im Berufsleben und anderen Bereichen. Wir müssen das allgemein regeln. Ich stimme zu, dass gefährdete Personen maximal geschützt werden müssen. Für das Schulleben würde das bedeuten, dass Kinder in Haushalten mit vulnerablen Angehörigen zu Hause unterrichtet werden. Diese Entscheidung liegt aber nicht in meinem Kompetenzbereich. Wir setzen die allgemeinen Schutzmaßnahmen auch im Schulbetrieb um, sind sogar noch ein bisschen strenger als in anderen Bereichen, beim Mundschutz zum Beispiel. Der Mundschutz ist obligatorisch, außer im Klassenraum. Wie wir den Schulbetrieb jetzt erleben, hat mehr mit einem Science-fiction-Roman zu tun als mit dem, wie Schule vorher funktioniert hat - weil wir alles tun, um die Schüler und Lehrer zu schützen und der Verbreitung des Virus entgegenzuwirken. Die Leopoldina schreibt maximal 15 Schüler pro Klasse vor. Wir liegen mit der Halbierung deutlich darunter, sowohl im Secondaire als auch im Fondamental.

Luxemburger Wort: Wie wird sichergestellt, dass die Vorschrift mit den Schutzmasken tatsächlich umgesetzt wird? Wenn Kinder zusammenkommen, kann man nicht erwarten, dass immer alle ihre Schutzmaske fachgerecht tragen...

Claude Meisch: Wir halbieren ja die Klassen, wir versetzen die Pausen. Zudem müssen Lehrer dafür sorgen, dass die Distanzregeln eingehalten werden und der Mundschutz getragen wird.

Luxemburger Wort: Dennoch, vor allem die kleinen Kinder werden Probleme haben, sich an die Regeln zu halten. Kleine Kinder sitzen nicht still. Da verrutscht schon mal ein Mundschutz, wird abgerissen, geht verloren oder wird vertauscht...

Claude Meisch: Natürlich ist es bei kleinen Kindern schwieriger. Deshalb werden wir spezifische Vorschläge für die Kindertagesstätten und den Zyklus 1 machen, was die maximale Zahl von Kindern pro Gruppe und die möglichen Aktivitäten betrifft. Dennoch müssen die Regeln in den Grundschulen eingehalten werden. Sie werden sich wundern, wie omnipräsent diese sein werden. Mir graut beim Gedanken, wie wir das Ganze organisieren, beaufsichtigen und kontrollieren müssen. Mir graut beim Gedanken, dass wir die Spielplätze auf dem Schulhof absperren müssen. Da dreht sich mir der Magen um. Aber es ist notwendig - zumal Kinder, die das Virus in sich tragen, in der Regel symptomfrei sind und andere möglicherweise unbemerkt anstecken. Wir können aber nicht zulassen, dass Kinder im Zyklus 1 sechs Monate lang keine Sprachförderung haben und nicht auf den Zyklus 2 vorbereitet werden. Wir müssen also schulische Situationen ermöglichen, dies unter dramatischen Sicherheitsvorkehrungen, die strenger sind als andernorts.

Luxemburger Wort: Ist im Schultransport eine Begleitung von Erwachsenen vorgesehen, die dafür sorgen, dass die Kinder die Distanzregeln einhalten 'beziehungsweise den Mundschutz tragen?

Claude Meisch: Die Mundschutzpflicht gilt dort, wo die Distanzregel nicht eingehalten werden kann. Beide Regeln sind nicht kumulativ. Man kann also sehr wohl im Bus in geringerem Abstand voneinander sitzen. Im Fondamental liegen der Bustransport und die Aufsicht in der Verantwortung der Gemeinden. Viele Gemeinden haben Begleitpersonal und es gibt sicherlich noch Reservepersonal. Ich kläre diese und andere Fragen heute mit dem Syvicol. Wir sollten uns auf einheitliche Vorgehensweisen einigen. Mit Mobilitätsminister François Bausch klären wir den Transport der Lycée-Schüler, wobei es bei gleichbleibender Buskapazität durch die Halbierung der Klassen leichter ist, das Social distancing zu garantieren.

Luxemburger Wort: Sie verzichten darauf, im Falle einer Infektion Klassen oder ganze Schulen unter Quarantäne zu stellen. Befürchten Sie nicht, dass Eltern ihre Kinder nicht mehr zur Schule schicken, sobald ein Fall auftaucht?

Claude Meisch: Diese Vorgehensweise haben nicht wir uns einfallen lassen, sondern zum jetzigen Zeitpunkt ist, dass laut der Santé die angemessene Art und Weise, vorzugehen. Wir sind nicht mehr in der Situation, dass ganze Schulen oder Betriebe aufgrund eines Falles geschlossen werden. Wir machen ein Tracing und testen die Kontaktpersonen. Das beinhaltet einen maximalen Schutz. Wenn beispielsweise ein Schüler infiziert ist, wird er isoliert und sein Umfeld wird getestet. Weitere positive Fälle werden ihrerseits isoliert und das Umfeld getestet. So wird sichergestellt, dass Nicht-Infizierte nicht mit positiv Getesteten in einer Klasse sind.

Luxemburger Wort: Das sollte denn auch genügen, um Eltern zu beruhigen...?

Claude Meisch: Wir begleiten diesen Prozess ja mit einer erhöhten Testkapazität in allen gesellschaftlichen Bereichen. Bevor die Schulen öffnen, werden rund 700 Schüler und Lehrer getestet. Dabei handelt es sich um eine repräsentative Untersuchung über die Verbreitung des Virus in der Schulbevölkerung. Wir prüfen beispielsweise, ob es geografische Unterschiede gibt und ob in bestimmten Regionen weitere Tests notwendig sind. Hinzu kommt ein intensives Testing über die nächsten Monate, um eventuelle Hotspots festzustellen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Die Kombination aus Informationen vor dem Schulbetrieb, während dem Schulbetrieb und Sicherheitsmaßnahmen, die wir ergreifen, sollte den Menschen genügend Vertrauen geben, dass das Bestmögliche zum Schutze aller getan wird.

Luxemburger Wort: Lehr- und Betreuungspersonal, das zur Risikogruppe gehört oder krank wird, fällt aus. Gleichzeitig wird mehr Personal gebraucht, um den Schul- und Betreuungsbetrieb den Sicherheitsmaßnahmen entsprechend zu organisieren. Haben Sie die dafür notwendigen Ressourcen?

Claude Meisch: Wir erleben eine Pandemie. Ganz sicher wird es krankheitsbedingte Ausfälle geben. Vulnerable Personen werden nicht im direkten Kontakt mit den Schülern sein, können aber von zu Hause aus Schüler unterrichten. Wie viele Lehrer das sein werden, ist heute unmöglich abzuschätzen. Aber wir haben Reserven. Im Fondamental wird die Wochenunterrichtszeit um drei Unterrichtsstunden gekürzt. Es werden also Stunden frei, die wir neu einsetzen können. Zusammen mit den Gemeinden und den Trägern der Maisons relais werden wir über eine optimale Nutzung von personellen und räumlichen Ressourcen diskutieren, um das Modell von Lern- und Übungswochen bestmöglich zu organisieren. Lehrer im Fondamental haben überdies die Möglichkeit, alle Unterrichtsstunden selbst zu übernehmen, wobei die zusätzlichen Stunden als Überstunden verbucht werden. Im Secondaire können Sportlehrer für die Klassenaufsicht oder andere Aktivitäten herangezogen werden. Der Bedarf an Ressourcen ist groß, aber wir haben Reserven.

Luxemburger Wort: Ein großes Problem in dieser Krise ist, dass Schüler, die ohnehin zu den Bildungsverlierern zählen, noch weiter abgehängt werden. Mit welchen Maßnahmen wollen Sie diesen Schülern helfen und den Bildungsrückstand wettmachen?

Claude Meisch: Wir werden ab dieser Woche unsere Anstrengungen verstärken, um Kontakt mit Schülern aufzunehmen, die besondere Unterstützung brauchen. Das sind Schüler mit spezifischen Bedürfnissen, aber auch Schüler in Familien, die vom Office national de l'enfance begleitet werden. Wir müssen dafür sorgen, dass der Kontakt nicht abbricht und dass die Hilfe unter den aktuellen sanitären Bedingungen ankommt. Im Notfall organisieren wir auch Unterricht in Schulen für Schüler, die wir im Fernunterricht nicht erreichen. Das läuft ab dieser Woche an.

Luxemburger Wort: Wie viele Schüler sind das?

Claude Meisch: In manchen Regionen haben wir alle Schüler erreicht. In anderen Regionen liegen wir im niedrigen einstelligen Prozentbereich. Die Schüler unterliegen der Schulpflicht. Wer sie zu Hause nicht einhalten kann, muss zum Unterricht in der Schule erscheinen, dies natürlich unter strengen Sicherheitsvorkehrungen.

Luxemburger Wort: Welche Konsequenzen drohen Schülern, die sich nicht an die Schulpflicht halten? Mussten Sie schon aktiv werden?

Claude Meisch: Aktiv wurden wir noch nicht. Im Secondaire drohen disziplinarische Sanktionen, im Fondamental schaltet sich der Jugendrichter ein, wenn Eltern die Schulpflicht nicht respektieren.

Luxemburger Wort: Wir müssen uns darauf einstellen, dass das Virus uns noch das ganze Jahr über begleitet. Welche Auswirkungen hat das auf die Organisation des kommenden Schuljahres? Werden Sie die Möglichkeiten des digitalen Lernens ausbauen?

Claude Meisch: Zunächst wollen wir das aktuelle Schuljahr so gut wie möglich abschließen. Unser Ziel ist es, das nächste Schuljahr normal anzugehen und dass Schüler ohne Defizite starten können. Wir werden den digitalen Unterricht ausbauen, wie wir es im Regierungsprogramm ohnehin vorgesehen hatten. Wir haben, was die Nutzung der digitalen Medien anbelangt, eine Hemmschwelle überwunden. Das ist ein positiver Punkt in dieser Krise. Sollte später erneut eine solche Krise auftauchen, sind wir besser vorbereitet, als das vor fünf Wochen der Fall war.

Luxemburger Wort: Gesetzt den Fall, die Schulen bleiben infolge von steigenden Infektionszahlen bis zum Sommer geschlossen, wie werden dann die Schülerleistungen bewertet?

Claude Meisch: Wir haben uns damit auseinandergesetzt, wie wir die Leistungen unter den aktuellen Bedingungen bewerten. Das ist ein Mix aus dem, was vor dem 13. März war, was während des Fernunterrichts vermittelt worden ist - dies allerdings nur formativ - und dem, was jetzt noch geprüft wird. Première-Schüler können ihren Notendurchschnitt mit zusätzlichen Prüfungen in drei Fächern verbessern, andere Lycée-Schüler können die schlechteste Note streichen lassen. Auch wenn wir den Zeitplan noch anpassen müssten, bin ich zuversichtlich, dieses Bewertungsmodell umsetzen zu können.

Luxemburger Wort: Sie hatten angekündigt, dass Luxemburg an der PISA-Erhebung 2021 nicht teilnehmen wird. Wäre es nicht gerade jetzt sinnvoll, sich dem internationalen Ländervergleich zu stellen?

Claude Meisch: Nein, es bleibt bei der Entscheidung. Natürlich müssen wir ein Monitoring machen, wie sich die Pandemie auf die Schülerleistungen ausgewirkt hat. Dazu haben wir das LUGET, das diese Dinge zeitnah und viel detaillierter messen kann, als das bei PISA der Fall wäre. Wir können die Entwicklung der Schüler mit den Jahren davor vergleichen und feststellen, ob sie beeinträchtigt oder auch nicht beeinträchtigt wurden. Dazu liefert uns unser eigenes Monitoringsystem ausreichend Zahlen.

Luxemburger Wort: Sie haben gesagt, das Homeschooling habe gut funktioniert. Woran machen Sie das fest?

Claude Meisch: Ich habe eine Umfrage zitiert, die wir bei Lehrern und Eltern durchgeführt haben. Eine große Mehrheit hat angegeben, nach anfänglichen Schwierigkeiten gut klar gekommen zu sein. Natürlich ist das sehr unterschiedlich. Man kann nicht von allen das Gleiche verlangen. Aber alle haben mit einem enormen Engagement versucht, das Beste aus der Situation zu machen.

Luxemburger Wort: Schließen Sie eine Kürzung der Sommerferien aus?

Claude Meisch: Die Schüler haben diese Ferien verdient wie nie zuvor. Eine Kürzung der Sommerferien ist für mich nicht vorstellbar.

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