Interview von Claude Meisch im Luxemburger Wort

"Kribbeln im Bauch"

Interview: Luxemburger Wort (Michèle Gantenbein)

Luxemburger Wort: Claude Meisch, mit welchem Gefühl starten Sie in dieses Schuljahr?

Claude Meisch: Bei jeder Rentrée kribbelt es im Bauch. Diese ist natürlich sehr speziell, aber ich starte mit einem zuversichtlichen Gefühl. Wir können auf Erfahrungen aufbauen und haben alles getan, um eine Rentrée hinzubekommen, die das Virus aus den Schulen heraushält und Freiraum für Bildung schafft.

Luxemburger Wort: Sie versprechen größtmögliche Sicherheit. Wie kann die-ohne Mundschutzpflicht gewährleistet werden, wenn der Körperkontakt zum Unterricht dazugehört - Stichwort lEBS oder Kompetenzzentren?

Claude Meisch: Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Aber wir haben Regeln. Wenn wir sie einhalten, kommt es nicht zu massiven Infektionen im Setting Schule. Bei den Kompetenzzentren war das ein großes Thema. Bis Mitte Juli jedoch wurde kein einziger Schüler positiv getestet. Die Erfahrung lehrt uns, dass auch nähere Kontakte möglich sind. In manchen Fällen ist die Distanzregel konträr zu pädagogischen Prinzipien. Das muss man akzeptieren.

Luxemburger Wort: Das Interesse an den Nachhilfekursen hält sich in Grenzen. Wie wollen Sie sicherstellen, dass Schüler, die Hilfe benötigen, aber nicht an den Kursen teilnehmen, Verpasstes dennoch aufholen?

Claude Meisch: Mit freiwilligen Angeboten erreicht man meistens die Familien, die ohnehin sehr bemüht sind. Deshalb haben wir die Lehrer aufgefordert, die Schüler zu bestimmen, die Hilfe brauchen und die Eltern dazu zu bewegen, ihre Kinder anzumelden. Da noch Plätze frei waren, haben wir uns direkt an die Eltern gewandt. Zusätzlich bieten wir jetzt im ersten Trimester Nachhilfe außerhalb der Schulzeiten an und intensivieren den Appui pédagogique, der ganz auf das Nachholen von Lernstoff ausgerichtet wird. Mit dem Programm wird es gelingen, Wissenslücken zu schließen.

Luxemburger Wort: Rechnen Sie mit mehr Lehrerausfällen als in normalen Zeiten?

Claude Meisch: Ja. Jede Region bekommt von vornherein 15 zusätzliche Remplaçants permanents. Wir haben Aushilfskräfte mobilisiert, um vulnerable Lehrer zu vertreten. Hinzu kommen Ressourcen für die außerschulische Nachhilfe. Das sind Lehrer, aber auch Studenten. Wir werden weitere Hilfskräfte rekrutieren, die gleich zu Beginn des Schuljahrs das Praktikum zur Lehrervertretung absolvieren. Damit müssten wir gut durch die Wintermonate kommen.

Luxemburger Wort: Ein Schwachpunkt während der Krise war die Kommunikation zwischen dem Bildring- und dem Gesundheitsministerium und die Kommunikation nach außen. Was werden Sie ändern?

Claude Meisch: Wir müssen über die Kommunikation Vertrauen aufbauen und Informationen so schnell wie möglich zur Verfügung stellen. Das Bildungsministerium übernimmt einen Teil dieser Kommunikation und informiert beispielsweise die Eltern. Die Schule wird die Kontaktdaten im Falle einer Infektion sammeln und an die Santé weiterleiten. Die interministerielle Arbeitsgruppe wird zudem in regelmäßigen Abständen einen Bericht über die Lage in den Schulen veröffentlichen.

Luxemburger Wort: Nehmen wir einen Infektionsfall in einer Klasse. Wer wird über den Fall informiert?

Alle Eltern von Kindern, die direkt betroffen sind, also in Kontakt mit dem Infizierten waren und isoliert beziehungsweise in Quarantäne sind.

Luxemburger Wort: Wer macht das Tracing?

Claude Meisch: In den Sekundarschulen werden die SePAS (Service psycho-social et d'accompagnement scolaires, Anm. d.Red.) dafür zuständig sein, die zusammen mit den Lehrern und Schülern eine Liste der Kontakte aufstellen. In den Grundschulen werden die Regionaldirektionen diese Aufgabe übernehmen, zusammen mit dem Schulpräsidenten, dem Schulkomitee oder den Coordinateurs de cycle.

Luxemburger Wort: Die Krise hat die Staatskasse arg strapaziert. Sind Punkte im Koalitionsprogramm jetzt infrage gestellt - die kostenlose Kinderbetreuung zum Beispiel?

Claude Meisch: Die kostenlose Kinderbetreuung sollte 2021 in Kraft treten. Das wird nicht möglich sein, auch weil wir uns aus zeitlichen Gründen nicht mit der doch sehr komplexen Reform beschäftigen konnten. Prinzipiell gilt das Koalitionsprogramm. Aber natürlich müssen wir nach der Krise analysieren, was wir uns leisten und welche Projekte wir umsetzen können. Dazu zählen auch die Modernisierung und Innovation in den Schulen. Wir können nicht zwei Schuljahre vergehen lassen, in denen wir uns nur um Covid kümmern.

Luxemburger Wort: Die Digitalisierung hat Lernen und Unterricht trotz geschlossener Schulen ermöglicht. Wo sehen Sie Nachholbedarf?

Claude Meisch: Technisch sind wir gut ausgestattet. Wir müssen uns mehr auf die Didaktik und die Pädagogik konzentrieren, um die Technik gewinnbringend, anzuwenden. Ziel ist es, dass der Unterricht besser wird und wir das Potenzial der digitalen Medien voll ausschöpfen. Unterricht wird nicht besser, wenn er auf einer digitalen Plattform stattfindet. Das hat sogar eher Nachteile, weil kein direkter Kontakt stattfindet und technische Hürden überwunden werden müssen. Wir müssen die Vorteile entwickeln, zum Beispiel, dass Schüler sich Wissen autonom aneignen und mit dem Lehrer später vertiefen. Auch die Vernetzung von digitalen Instrumenten, zum Beispiel im Geschichtsunterricht, hat enorme Vorteile gegenüber dem traditionellen Unterricht mit einem einfachen Buch. Die Krise hat dazu beigetragen, die technischen Hürden zu überwinden. Viele Lehrer haben sich während des Lockdowns online weitergebildet. Wir müssen jetzt in die nächste Phase und uns mit dem Blended Learning beschäftigen, also der Verknüpfung von klassischem und computergestütztem Lernen, um den Unterricht zu verbessern.

Luxemburger Wort: Sie führen dieses Jahr - wie geplant - im Zyklus 4 das sogenannte Computational Thinking, also das Programmieren, ein?

Claude Meisch: Ja, es gibt keinen Grund, diese Neuerung wegen Covid nach hinten zu verschieben. Die Lehrer werden dadurch nicht überfordert sein. Der Unterricht findet größtenteils ohne Bildschirm und ohne Computer statt. Es geht um die Entwicklung von algorithmischem Denken und darum, eine Basis für das spätere Programmieren zu schaffen. Es ist eine Vorbereitung für das Fach Computer Science, das ab dem nächsten Jahr in den unteren Sekundarschulklassen angeboten wird. Letztlich geht es darum, ein grundlegendes Verständnis der digitalen Welt zu vermitteln und den einen oder anderen auf den Geschmack zu bringen, eine I-Sektion zu besuchen und letzten Endes auch mehr Informatiker auszubilden.

Luxemburger Wort: Sie wollen das Computational Thinking in einer nächsten Phase im Zyklus 2 einführen. Ist es wirklich notwendig, Kinder in dem Alter an das algorithmische Denken heranzuführen?

Claude Meisch: Wenn die Schüler vor einem Bildschirm säßen und programmieren müssten, wäre es völlig übertrieben. Es geht darum, strukturiert zu denken und komplexe Probleme in kleine Schritte zu unterteilen. Auch wenn nicht jeder später Programmierer wird, denke ich, dass es niemandem schadet. Das passiert altersgerecht und spielerisch und wird sicherlich vielen Kindern Spaß machen. Ein Schwachpunkt unserer Schüler - das hat eine Studie ergeben - ist die Problemlösekompetenz. Mit dem Computational Thinking können wir da ganz sicher etwas erreichen.

Luxemburger Wort: Viele Experten fordern ein digitalfreies Leben für Kinder - privat und schulisch - bis zu einem gewissen Alter. Wo sehen Sie die Grenze?

Claude Meisch: Wir haben vergangenes Jahr eine Kampagne gestartet, um Eltern für einen vorsichtigen Umgang mit digitalen Geräten zu sensibilisieren. In der Schule überwiegt die Frage, was man mit den Instrumenten macht. Vor Jahren schon gab es Sprachprogramme auf Tablets, die im Zyklus 1 eingesetzt wurden. Das hat niemanden schockiert. Wenn aber die Kinder stundenlang nur noch Filme auf Tablets anschauen, ist die Anwendung sicher falsch. Der Einsatz von Instrumenten ist kein Ziel an sich.

Luxemburger Wort: Jedes Jahr werden Lehrer über das Quereinsteigerprogramm rekrutiert. Das Gesetz läuft 2023 aus. Wie wird es danach weitergehen?

Claude Meisch: Das wird eines der großen politischen Themen in diesem Schuljahr sein. Wir sollten nicht bis 2023 warten und dann wieder wie 2018 in der Not eine Lösung finden. Wir rekrutieren viele gute Lehrer über das Quereinsteigerprogramm. Sie behaupten sich im Concours, die ersten Jahrgänge haben sich gut in den Schulen integriert. Wir sollten den Weg weiterverfolgen und nach wie vor unterschiedliche Profile für den Lehrerberuf rekrutieren. Wie wir das machen, darüber müssen wir diskutieren. Eine einfache Fortschreibung des Quereinsteigerprogramms nach 2023 wird es nicht geben. Wir müssen Verbindungen herstellen zwischen der Lehrerausbildung an der Uni und der Quereinsteigerausbildung und sowohl Personen mit einem schulnahen Studium für den Lehrerberuf gewinnen als auch Personen mit einer völlig anderen Berufs-und Lebenserfahrung.

Luxemburger Wort: Das Ziel war, 75 Prozent der Lehrer in Luxemburg auszubilden...

Claude Meisch: Davon sind wir weit entfernt.

Luxemburger Wort: Sie stehen ja deswegen in Kontakt mit der Uni. Hat sich da etwas bewegt?

Claude Meisch: Nein, da bewegt sich nichts momentan. Die Zahl an Uniabsolventen ist sehr niedrig - auch, weil fast ein Drittel der Bachelor-Absolventen noch einen Master dranhängt und erst ein Jahr später in den Beruf einsteigt.

Luxemburger Wort: Sie haben im Fondamental ein Hilfssystem aufgebaut mit dem Ziel, Schülern mit Problemen schneller zu helfen. Viele Lehrer aber beschweren sich über lange Wartezeiten. Woran liegt das?

Claude Meisch: Es dauert deutlich weniger lange als früher. Die lEBS sind vor Ort und die Schulen entscheiden selbst, wie sie die Hilfe organisieren.

Luxemburger Wort: Die Frage bezieht sich eher auf die regional angesiedelten ESEB...

Claude Meisch: Auch die ESEB* sind deutlich näher an den Schulen und wesentlich schneller, als das vorher der Fall war. Mit Sicherheit geht es Einzelnen nicht schnell genug, aber es reicht nicht, wenn ein Lehrer nach Hilfe schreit. Nach wie vor muss erst geprüft werden, ob die Hilfe wirklich notwendig ist, und was wirklich hilft. Manchmal reicht ein pädagogischer Rat an den Lehrer oder eine Weiterbildung. Die ESEB wurden und werden weiterhin personell massiv aufgestockt. Pro Region werden jetzt zwei Agenten designiert, die in Notsituationen ohne lange Prozeduren schnell eingreifen können.

Luxemburger Wort: Zahlreiche Experten, darunter Kinderärzte und Erziehungswissenschaftler, aber auch Eltern stellen fest, dass viele Kinder sich nicht mehr gut entwickeln. Sie werden mit digitalen Geräten ruhiggestellt, wachsen überwiegend außerhalb familiärer Strukturen auf. Lehrer sagen, dass Eltern ihre Kinder nicht mehr kennen und zunehmend von der Schule erwarten, dass sie aus ihrem Nachwuchs karriere- und lebenstaugliche Erwachsene macht. Meinen Sie nicht, dass die Bildungspolitik diese Entwicklung mehr thematisieren und neue Antworten auf diese Problematiken finden muss?

Claude Meisch: Das ist uns allen bewusst und hat seine Ursachen. Die Gesellschaft hat sich gewandelt, es haben technologische Umwälzungen stattgefunden. Die heutige Elterngeneration hat das in ihrer Kindheit nicht erlebt. Die Eltern von heute sind zum Teil verunsichert und wissen oft nicht, wie sie mit den Neuerungen umgehen sollen. Manche sind ihren Kindern kein gutes Vorbild und schränken den digitalen Konsum nicht genügend ein. Die Geräte sind nicht mehr wegzudenken und es ist eine Illusion, zu meinen, man könne Kinder davon fernhalten. Allerdings versuchen wir in den Schulen einen sinnvollen Umgang mit den Instrumenten zu vermitteln. Wir sind mit einem Phänomen konfrontiert, das noch nicht besonders erforscht ist und als Bildungssystem haben wir noch nicht alle Antworten darauf gefunden. Kinder müssen ausgeglichene Erfahrungen machen. Wir können dieses Gleichgewicht herstellen, zum Beispiel indem die Zeit in den Maisons relais digitalfrei ist und Aktivitäten in der Natur im Mittelpunkt stehen. Aber natürlich haben die Eltern nach wie vor eine große Verantwortung.

Luxemburger Wort: Die Auseinandersetzung mit dem Kindeswohl fehlt komplett in der politischen Debatte. Wir wissen, dass die Zahl der Kinder mit stark abweichendem Sozialverhalten zunimmt und es vielen Kindern nicht gut geht. Das ist doch alarmierend...

Claude Meisch: Natürlich ist das alarmierend. Wir versuchen ja in den Schulen, mit solchen Situationen klarzukommen und spezifische Angebote für solche Kinder zu schaffen. Natürlich muss auch eine Diskussion über die Ursachen stattfinden, allerdings hat es dieses Phänomen schon immer gegeben und man kann es auch nicht nur auf den Umgang mit digitalen Medien zurückführen. Wir nehmen uns nicht mehr genug Zeit für die Kinder und lassen sie sich einseitig mit digitalen Geräten beschäftigen. Andererseits sollte man die digitalen Medien auch nicht verteufeln. Während der Krise waren wir erleichtert, dass die Kinder die Geräte hatten und miteinander kommunizieren konnten. Andererseits hat ihnen vieles gefehlt. Das sollten wir wieder in den Vordergrund rücken und schauen, was im Bildungspackage drin sein muss, d.h. was eine Schule, eine Betreuungsstruktur und das Elternhaus leisten müssen, damit die Kinder gut aufwachsen.

 

 

*Equipes de soutien des élèves à besoins éducatifs particuliers ou spécifiques

 

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