Interview von Claude Meisch im Luxemburger Wort

"Man kann nicht in allem ein Genie sein"

Interview : Luxemburger Wort (Michèle Gantenbein)

Luxemburger Wort: Claude Meisch, so oft man Sie in Ihrer ersten Amtszeit auf Presseterminen gesehen hat, so selten sieht man Sie jetzt. Gibt es keine Reformen mehr anzukündigen?

Claude Meisch: Ich habe mich in den vergangenen Monaten mit vielen Akteuren getroffen. Mir ist der Dialog sehr wichtig. Ich möchte vor allem wissen wo der Schuh drückt und auf welche neuen Herausforderungen die Politik noch keine Antworten gegeben hat. Ich möchte, abgesehen von dem, was im Regierungsprogramm vorgesehen ist, wissen, welchen Themen wir mehr Aufmerksamkeit schenken sollten.

Luxemburger Wort: Wo drückt denn der Schuh?

Claude Meisch: Ich bekam als Rückmeldung, dass wir das Bildungssystem in der Kontinuität weiterentwickeln sollten. Es werden aber auch Antworten erwartet im Hinblick auf die Entwicklung der Gesellschaft. Wie können wir die jungen Menschen auf das Leben vorbereiten, ohne alles über Bord zu werfen, was früher wichtig war?
Diese Botschaft wird auch breit geteilt und ich möchte sie in den kommenden vier Jahren stark thematisieren.

Luxemburger Wort: Die Ergebnisse des Bildungsdialogs sollten in einem Bericht zusammengefasst werden, der noch vor der Sommerpause veröffentlicht wird ...

Claude Meisch: Wir arbeiten noch dran. "Bildung im Dialog" ist ja kein abgeschlossener Prozess. Wir werden nach der Rentrée neue Akzente setzen. Ein Punkt betrifft die Umfrage des SEW zum Wohlbefinden der Lehrer. Ich möchte noch genauer wissen, welche Unterstützung die Lehrer in ihrem Alltag erwarten. Aus diesem Grund wollen wir Lehrerforen zusammenstellen, die uns rückmelden, wie die Lehrer sich in ihrer beruflichen Aktivität fühlen und was ihre Ansprüche an die Politik sind.

Luxemburger Wort: Lehrer beanstanden immer häufiger, dass Eltern ihren Erziehungsauftrag nicht mehr wahrnehmen und ihn an die Gesellschaft auslagern. Sie haben die Rechte der Eltern gestärkt. Wo aber bleiben die Pflichten? Dazu hört man von politischer Seite nichts ...

Claude Meisch: Mir ist wichtig, die Eltern an ihre Verantwortung zu erinnern und sie darin zu unterstützen. Im Regierungsprogramm sind eine Reihe von Initiativen, die genau das zum Ziel haben. Wir werden aus den Maisons relais Familienzentren machen, wo die Eltern Beratung und Begleitung finden. Wir werden die "Stadtvierteleltern" einführen, damit Eltern die Erziehungskompetenzen anderer Eltern nutzen können. Es kann nur partnerschaftlich funktionieren, auf Augenhöhe. Jeder ist auf seine Weise ein Bildungsexperte.

Luxemburger Wort: Das setzt die Bereitschaft der Eltern voraus, die Dinge auch so angehen zu wollen. Viele Eltern aber erkennen nicht, dass sie ihren Erziehungsauftrag nicht wahrnehmen oder sehen die Gesellschaft in der Verantwortung. Es geht darum, Pflichten einzufordern ...

Claude Meisch: Zunächst einmal tun die Schulen das. Sie erinnern Eltern an ihre Pflichten, und wir setzen das auch mit den Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, durch. Manche Familien haben andere Möglichkeiten, ihrer Verantwortung nachzukommen, als andere Familien. Wichtig ist, dass wir alle Familien stärken. Das kann inhaltlich sein, mit Ratschlägen und Aufklärung, zum Beispiel im Bereich neue Medien. Wie lange darf ein Zehnjähriger Playstation spielen? Das haben die meisten Eltern nicht von ihren Eltern gelernt. Wir geben Elternhefte heraus, warnen vor Risiken. Wir erinnern sie also nicht nur an ihre Verantwortung, sondern stärken sie auch darin.

Luxemburger Wort: Der nationale Bildungsbericht von 2018 kommt zum Schluss, dass sich die Bildungsungleichheiten seit 2014 verschärft haben.
Sie haben eine Reihe von Reformen umgesetzt, von denen Sie jetzt sagen werden, dass sie zeitverzögert wirken. Dennoch: In unserem Bildungssystem läuft doch etwas schief ...

Claude Meisch: Unsere Gesellschaft ist vielfältiger und die Schüler noch unterschiedlicher geworden. Unsere Antwort darauf lautet: unterschiedliche Schulen für unterschiedliche Schüler. Diese Antwort trägt ihre Früchte. Aber ich stimme mit Ihnen überein, dass wir da nicht am Ende eines Prozesses stehen, sondern eher noch am Anfang, was die Entwicklung von schulischen Angeboten betrifft, die den Talenten, den Interessen und den Sprachen der Schüler Rechnung tragen. Ich fühle mich eher bestätigt und wir werden die Entwicklung in den Bereichen, in denen wir Reformen gemacht haben, beschleunigen und die Umsetzung konkret begleiten, damit noch mehr Schüler davon profitieren.

Luxemburger Wort: Eine andere Feststellung im Bildungsbericht ist, dass das Bildungssystem durchlässig nach unten, aber kaum durchlässig nach oben ist. Was wollen Sie dagegen tun?

Claude Meisch: Die Diversifizierung der Schulangebote ist auch hier eine Antwort. Heute gibt es Laufbahnen für Schüler, die in unserem Bildungssystem früher keine Chance gehabt hätten. In der Berufsausbildung eröffnen wir DAP-Absolventen neue Perspektiven, indem wir den Weg zu einem Technikerdiplom bis hin zu einem Hochschulstudium öffnen. Damit wollen wir gute Schüler gewinnen, die bereit sind, den Weg über die Berufsausbildung einzuschlagen oder ihn zumindest nicht von vornherein ausschließen. Und wir wollen denen, die mit 15 oder 16 Jahren noch gar nicht an einen Hochschulabschluss denken, diese Möglichkeit geben. Das ist gelebte Durchlässigkeit von unten nach oben.

Luxemburger Wort: Welche Empfehlungen aus dem Bildungsbericht wollen Sie konkret umsetzen?

Claude Meisch: Die Bildungsungerechtigkeit war ein Schwerpunkt der Bildungspolitik in den vergangenen fünf Jahren und wird es auch bleiben. Frühförderung, Kompetenzstärkung sind weitere Schwerpunkte dieser Legislaturperiode. An der Digitalisierung kommen wir nicht vorbei. Die Maschinen werden uns vieles abnehmen. Deshalb müssen wir die menschlichen Kompetenzen stärken: Teamfähigkeit, Kreativität, transversales und kombinierendes Denken. Das erreichen wir, indem wir konsequent in die Stärkung der Jugendlichen investieren, auch über den non formalen Bildungsweg. Und deshalb müssen wir die Qualität in den Betreuungsstrukturen verbessern, wir müssen die Jugendarbeit weiter stärken und das außerschulische Angebot der Sekundarschulen erweitern.

Luxemburger Wort: Viele Lehrer würden das Kompensierungssystem am liebsten abschaffen. Es führt dazu, dass Schüler immer größere Defizite vor sich herschieben. Und am Ende werden Fähigkeiten zertifiziert, die sie nicht haben ...

Claude Meisch: Wenn ich in einem Fach kompensiere, steht das auf dem Diplom drauf. Da belügen wir niemanden, und dort steht auch nur das, was der Schüler tatsächlich kann. Es gibt Schüler, bei denen es sich lohnt, an den Defiziten zu arbeiten und sie zu beheben. Es gibt aber auch Schüler, bei denen man sich auf die Entwicklung der Stärken konzentrieren sollte. Ich weiß auch, dass das Kompensierungssystem bei manchen Schülern kontraproduktive Reaktionen hervorruft. Dennoch: Es ist sinnvoller, die Stärken zu stärken als Zeit mit unüberwindbaren Defiziten zu verschwenden. Ein Schüler, der kein Talent zum Fußballspielen hat, kann so viel trainieren, wie er will. Er wird nie ein guter Fußballspieler sein. Ähnlich sehe ich es mit einzelnen Schulfächern. Man kann nicht in allem ein Genie sein.

Luxemburger Wort: Das Quereinsteigergesetz im Fondamental läuft in drei Jahren aus. Sehen Sie eine Chance, dass in drei Jahren wieder genügend regulär ausgebildete Lehrer rekrutiert werden können?

Claude Meisch: Wir werden bei den Lehrern ebenso viele Rekrutierungsprobleme haben wie bei den Handwerkern, der Polizei, der Steuerverwaltung oder in den Krankenhäusern. Ich kann heute nicht sagen, wie die Lage in drei Jahren aussieht.

Luxemburger Wort: Sie wollen, dass die Uni 75 Prozent des Lehrerbedarfs im Fondamental deckt. Dieses Jahr mussten 320 Stellen besetzt werden, es wurden aber nur 63 Lehre von der Uni Luxemburg rekrutiert Sie muss also mehr Kandidaten aufnehmen ...

Claude Meisch:
Ich bin nicht zufrieden mit dem diesjährigen Rekrutierungsergebnis, und ich werde als Hochschulminister die Uni daran erinnern, dass sie dem Land eine] Dienst zu erweisen, das heißt Lehrer für unser Bildungssystem auszubilden hat. Ich muss dazu aber sagen: Selbst, wenn die Uni 150 Kandidaten mehr aufnimmt, sind das nicht netto 150 Lehrer mehr. Wir müssen den jungen Menschen den Beruf schmackhaft machen und die Vorzüge hervorheben. Der Beruf bietet viele verschiedene Perspektiven und Karrieren: in den Schulen, im Ministerium, in den Regionaldirektionen.

Luxemburger Wort: Die Quereinsteiger werden am IFEN ausgebildet. Wäre es denkbar, dass das IFEN neben der Uni eine reguläre Lehrerausbildung anbietet?

Claude Meisch: Nein, das IFEN ist ein Ausbildungszentrum, das sich auf den Berufseinstieg und die Weiterbildung konzentriert. Das IFEN ist kein Hochschulinstitut und wird kein früheres ISERP werden.

Luxemburger Wort: Die Uni muss immer mehr Kandidaten mit sprachlichen und mathematischen Defiziten aufnehmen. Bildungsexperten raten deshalb, Teilspezialisten auszubilden, die nicht' in allen Fächern kompetent sein müssen. Wie stehen Sie zu dieser Idee?

Claude Meisch: Im Regierungsprogramm steht das nicht drin. Es gibt kein politisches Mandat, vom Generalisten im Fondamental abzuweichen.
Ich bin der Meinung, dass man von Hochschulabsolventen verlangen kann, innerhalb einer vierjährigen Ausbildung etwaige Defizite aufzuarbeiten. Das war bislang keine Priorität der Uni, weil sie die Kompetenzen voraussetzt und sich auf die pädagogisch-didaktischen Aspekte der Ausbildung konzentrieren möchte. Beides sollte aber parallel möglich sein.

Luxemburger Wort: Welche Auswirkungen wird die Bildungsreform in Belgien auf Luxemburg haben?

Claude Meisch: Wir müssen erst einmal abwarten, ob es angesichts der Regierungsbildung in Belgien bei dem bleibt, was wir heute wissen. A priori stellt sie uns nicht vor besonders große Herausforderungen. Wir werden von dort Lehrer rekrutieren können, selbst wenn unsere Rekrutierungsprozeduren so bleiben, wie sie heute sind. Dennoch gilt es zu überlegen, ob das belgische Modell mit einem Master I, Master II und einer weiterführenden Spezialisierung auch für uns eine Piste sein könnte.
Wir haben ja schon heute den spezialisierten Lehrer mit einem Master in Sonderpädagogik, Schulmanagement oder Schulentwicklung. Wir haben die Uni gebeten, eine Ausbildung in Sonderpädagogik anzubieten, weil wir in diesem Bereich einen großen Bedarf haben.

Luxemburger Wort: Die kostenlose Kinderbetreuung während der Schulwochen, ist das die Vorstufe zu einer flächendeckenden Ganztagsschule?

Claude Meisch: Es ist sicherlich eine Überlegung, die in Richtung Ganztagsschule deutet, das stimmt. Wobei es aber keine Pflicht ist. Man nennt das offene Ganztagsschule. Außerhalb der Schulzeiten gibt es ein fakultatives Betreuungsangebot, so, wie wir es heute überall haben. Die Überlegung, die dahintersteckt, ist: Wir entlasten die Eltern und die non formale Bildung wird kostenlos wie die formale Bildung.

Luxemburger Wort: Ziel ist also nicht, eine obligatorische Ganztagsschule einzuführen?

Claude Meisch: Nein, das ist nicht das Programm dieser Regierung.

Luxemburger Wort: Und längerfristig?

Claude Meisch: Diese Regierung hat ein Programm bis 2023, und ich fühle mich nicht befugt, darüber hinaus etwas zu sagen. Persönlich denke ich, dass das keinen Sinn machen würde und den Lebensumständen der Menschen in Luxemburg nicht entspräche.

Luxemburger Wort: Wie weit sind die Gespräche mit den Trägern im Betreuungssektor in Sachen Chèques-Services-Reform vorangeschritten?

Claude Meisch: Wenn die Betreuung während der Schulwochen gratis wird, brauchen wir für diese Wochen kein Chèques-Services-System mehr. Das System ist schwerfällig und wenig transparent. Niemand hat den Durchblick, wie die Kosten berechnet werden. Wir brauchen ein Instrument, das für alle einfach zu handhaben ist und der Vielfalt der Träger Rechnung trägt. Die kommerziellen Träger haben andere Erwartungen, sie möchten Gewinne machen. Das ist legitim, aber wir müssen zusehen, dass die Dienstleistungen, die der Staat bezahlt, auch tatsächlich beim Kind ankommen, und wir müssen klären, welche zusätzlichen Leistungen die privaten Strukturen den Eltern in Rechnung stellen und wie viel sie dafür verlangen dürfen.

Luxemburger Wort: Und wie kommen Sie in der Diskussion über die Tarife voran?

Claude Meisch: Momentan liegt der staatliche Beitrag für alle Strukturen - die öffentlichen und die kommerziellen - bei sechs Euro pro Kind und Stunde. Mit dem Unterschied, dass der Staat Defizite bei den öffentlichen Trägern übernimmt. Der Tarif von sechs Euro ist länger nicht mehr angepasst worden, und darüber müssen wir verhandeln.

Luxemburger Wort: Sie haben die Mini-Crèches geschaffen, doch dem Ministerium liegt nur eine Anfrage vor. Woran liegt das?

Claude Meisch: Viele Eltern haben mir rückgemeldet, dass das genau das Richtige ist: klein, überschaubar, wenig Personalwechsel. Doch bislang hat niemand angebissen. Liegt es an der Finanzierung, an den Anforderungen oder am gesetzlichen Rahmen? Das müssen wir herausfinden. Die Idee ist gut und ich möchte, dass sie funktioniert.

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